Das Erbe der Maya

Der tropische Regenwald Petén im Norden Guatemalas macht seinem Namen alle Ehre – es schüttet wie aus Eimern. Die Reifen des Toyota Landcruiser versinken bis zur Achse im Morast. Alle paar Minuten springen die einheimischen Helfer von der Ladefläche des Pick-ups, um das Auto mit Seilwinden aus dem Schlamm zu ziehen oder mit Motorsägen umgestürzte Baumriesen aus dem Weg zu schaffen. Manchmal dauert es Stunden, bis das Team um Professor Grube die Fahrt fortsetzen kann. Geduld ist eine der wichtigsten Tugenden für die Suche nach alten, vom Dschungel überwucherten Maya-Stätten.

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1949 veröffentlicht der deutsche Journalist Kurt Wilhelm Marek unter dem Pseudonym C. W. Ceram sein Buch „Götter, Gräber und Gelehrte“. Der Untertitel „Roman der Archäologie“ weist auf Mareks Hauptanliegen hin, ein unterhaltsames Buch über die Geschichte der Archäologie zu schreiben.

Schon früh entdeckt der gebürtige Bonner Nikolai Grube seine Begeisterung für die Maya – C. W. Cerams Archäologie-Bestseller „Götter, Gräber und Gelehrte“ sei Dank. Im letzten Kapitel „Buch der Treppen“ erfährt der damals Elfjährige, dass die Schrift der Maya bis dato noch nicht entschlüsselt ist. „Das weckte meinen Entdeckergeist“, erinnert sich Grube. „Ich habe mir alles ausgeliehen, was ich in die Finger kriegen konnte: Bücher, Zeitschriften, Hieroglyphen-Kataloge. Dann habe ich die Zeichen abgemalt, miteinander verglichen und irgendwann Schemata erkannt.“ Seine erste wissenschaftliche Publikation veröffentlicht er mit 17 Jahren.

In Hamburg beginnt der heute 57-Jährige das Studium der Altamerikanistik und Ethnologie – und konzentriert sich zunächst auf die Schrift der Maya. Mit ein paar amerikanischen Studenten aus Yale und Princeton tauscht er sich Anfang der 1980er Jahre in langen Briefen aus. Den jungen Leuten gelingt mit der Entzifferung vieler bis dahin unbekannter Silben und Bildzeichen tatsächlich ein Quantensprung für die Wissenschaft. „Mittlerweile können wir die Hieroglyphen fast vollständig deuten“, sagt Grube. „Bei den Maya spielte die Schrift eine große Rolle. Sie haben fast alles beschrieben: Holz, Fassaden, Keramik, Türlaibungen, Jadeschmuck und Stelen – mit wichtigen Details zu ihrer Geschichte.“

Metropolen im Regenwald

Die Maya gehörten zu den großen alten Hochkulturen, deren Anfänge bis ins zweite Jahrtausend vor Christus zurückreichen. Während der Blütezeit zwischen 250 und 900 nach Christus lebten – nach neueren Erkenntnissen – unglaubliche zehn bis fünfzehn Millionen Menschen inmitten des tropischen Regenwaldes im heutigen Mexiko, Guatemala, Belize, El Salvador und Honduras. „Das war die dichteste Besiedelung der damaligen Welt“, sagt Grube. Dass so viele Menschen im Dschungel überleben konnten, sei dem ausgeklügelten landwirtschaftlichen System zu verdanken. „Die Maya nutzten die natürlichen Ressourcen klug. Mais war für die ‚Maismenschen’, wie sich die Maya selbst nannten, die wichtigste Nahrungsquelle. Dennoch haben sie nie große Monokulturen angelegt oder für ihre Felder alles abgeholzt.“

Ihre Städte zeugen von einer hochentwickelten Zivilisation, die internationale Grabungsteams nach und nach vom Dschungel freilegen. Zum Vorschein kommen riesige Stufenpyramiden, Paläste, Observatorien, Ballspielplätze und Kanalsysteme, darunter auch die Ruinen von Tikal im heutigen Guatemala und Calakmul in Mexiko. „Tikal und Calakmul waren im Maya-Tiefland die alles beherrschenden Supermächte, die im 6. und 7. Jahrhundert eine Vielzahl von Vasallen und Verbündeten um sich scharten“, erklärt Grube. „Zwischen beiden herrschte eine Art Kalter Krieg.“ Als Tikal mächtiger wurde, geriet dieses Gleichgewicht des Schreckens aus der Balance. Bündnisse lösten sich auf, die Vasallen rebellierten. „In der politischen Anthropologie sprechen wir von ‚Balkanisierung’ – es kommt zu unzähligen Kleinkriegen und der Gründung von unabhängigen Kleinstaaten.“

Die Suche nach dem Warum

Ob das der Grund für den Untergang der gesamten Hochkultur war? Die Wissenschaft sei in dieser Frage gespalten, meint Grube. „Etwa 50 Prozent der Kollegen machen Klimawandel, Dürre und Hungersnöte dafür verantwortlich. Die andere Hälfte, zu der auch ich gehöre, glauben eher an den politischen Kollaps. Die Kriege forderten viele Todesopfer, die Gottkönige verließen teils fluchtartig ihre Paläste, die Infrastruktur und Wasserversorgung brachen zusammen.“

Nikolai Grube (rechts) lehrt als Professor für Altamerikanistik und Ethnologie in Bonn. Mehrere Monate im Jahr hält er sich in Mittelamerika auf, um die Maya-Kultur weiter zu erforschen.

Allerdings sei die Grundlagenforschung noch lange nicht abgeschlossen. „Wir wissen immer noch nicht, was sich im Einzelnen abgespielt hat.“ Glücklicherweise seien sowohl Guatemala als auch Mexiko gegenüber gemeinsamen Forschungsprojekten sehr aufgeschlossen. „Es gibt beispielsweise eine enge Zusammenarbeit zwischen der Uni Bonn und der mexikanischen Altertumsbehörde. Forscher aus dem Ausland sind willkommen, wir tauschen regelmäßig Studenten aus und kooperieren sowohl bei den Ausgrabungen wie auch bei der Auswertung der Funde.“

Einheimische Experten

Mehrere Monate pro Jahr ist Grube auf der Suche nach verborgenen Maya-Stätten, die restliche Zeit verbringt er am Schreibtisch, um mögliche Funde auszuwerten und zu publizieren. „Ohne die Hilfe der einheimischen Chicleros wäre die Feldforschung so nicht möglich“, sagt der Professor. „Durch ihre Arbeit als Latexzapfer kennen sie nicht nur die Gefahren des Dschungels, sondern auch Pfade, die wir nicht einmal sehen, und Orte, die auf keiner Karte eingezeichnet sind.“

Ein solcher Ort ist „Ferne Steine“, wie ihn die Chicleros in ihrer Maya-Sprache nennen. Ob sich hinter dem Namen alte Maya-Ruinen verbergen? Grube und sein Expeditionsteam lassen die Geländewagen stehen und packen das Nötigste auf Maulesel um. Der Dschungel ist so dicht, dass es ab jetzt zu Fuß weitergeht. Nach einem zweitägigen Marsch stoßen sie auf einen steilen Hügel mitten im Dschungel. Schnell bestätigt sich die Vermutung, dass es sich um eine Pyramide handelt, die seit Jahrhunderten unter Moosen, Farnen und riesigen Würgefeigen verborgen lag.

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Der Name der Chicleros leitet sich von dem indigenen Wort „Chicle“ ab. Die Gummizapfer klettern auf die Chicozapote-Bäume, machen Schnitte in deren Rinde und fangen den Chicle, einen gummiartigen Baummilchsaft, in einem Behälter auf. Wenn die Forschungsteams kommen, ist das für die Männer eine willkommene Abwechslung. „Wir sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region“, sagt Grube. „Die Jobs als Grabungsarbeiter, Fährtensucher oder Koch sind gut bezahlt und für die Einheimischen die Gelegenheit, Geld zu verdienen.“
Für Grube ist die Hochkultur der Maya die „bedeutendste Kultur Altamerikas“. Für ihn ist diese Wertung auch eine Frage der Quantität. Die Maya hinterließen viel mehr archäologische Zeugnisse als die beiden anderen präkolumbischen Hochkulturen der Azteken und Inka zusammen.

Weitere Mauern tauchen auf, doch Nikolai Grubes Interesse konzentriert sich vor allem auf die Stelen, monolithische Pfeiler, die es in jeder Maya-Stadt gab. „Diese Stelen haben die Maya mit Hieroglyphentexten beschrieben. Sie verraten in der Regel den Namen der Stadt und erzählen ihre Geschichte“, sagt Grube. „Sie sind der Schlüssel zum Verständnis der Maya-Kultur.“

Immer mehr Schriftzeichen

Es ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, doch wieder zahlt sich die Geduld aus. Grube entdeckt tatsächlich umgestürzte Stelen. Die Inschriften sind so verwittert, dass er beschließt, in der Nacht zurückzukommen. So paradox es klingt: In der Dunkelheit lassen sich die Hieroglyphen besser entziffern. „Im künstlichen Licht der Taschenlampe tritt das Relief schärfer hervor“, erklärt Grube. Neben Taschenlampe und Fotoapparat gehört ein Zeichenblock zu seiner Standardausrüstung. Alle Inschriften, die Grube findet, zeichnet er entweder sofort vor Ort ab oder später vom Foto. Durch die kontinuierliche Entdeckung solcher Stelen kommen ständig neue Schriftzeichen zu den bereits bekannten hinzu. In seinem Standardwerk „Maya. Gottkönige im Regenwald“, das im Jahr 2000 erstmals erschien, hatte Grube noch von 800 Schriftzeichen gesprochen, von denen 300 entziffert seien. „Mittlerweile muss ich diese Zahlen revidieren. Wir kennen heute rund 900 Hieroglyphenzeichen – Tendenz steigend.“

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Die Kenntnis der Maya- Schrift ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass Wissenschaftler sogar orthografische Fehler erkennen. Im „ Madrider Codex“ gibt es so viele Rechtschreibfehler, dass einige Forscher dessen Schreiber als „ Maya-Legastheniker“ bezeichnen.

Dabei schien die Maya-Schrift im 16. Jahrhundert, nachdem die Spanier Mittelamerika erobert hatten, ausgerottet. Der Inquisition fielen nicht nur Priester, Schriftgelehrte und Gottkönige zum Opfer, die sich nicht zum katholischen Glauben bekehren ließen. Auch die Handschriften der Maya, viele Meter lang, wie eine Ziehharmonika gefaltet und mit Einbänden aus Holz oder Jaguarfell, landeten als Teufelswerk auf dem Scheiterhaufen. Lediglich vier Codices überstanden die Bücherverbrennungen und befinden sich heute in Dresden, Paris, Mexiko-Stadt und Madrid. „Mit der Kolonisation wurde das kulturelle Gedächtnis eines ganzen Volkes ausgelöscht“, sagt Grube. „Von den Nachfahren der Maya beherrschte bereits im 17. Jahrhundert keiner mehr die Schrift seiner Ahnen.“

Die Situation der heutigen Maya

Heute leben noch ca. sieben Millionen Nachfahren der Maya, die meisten von ihnen in Mexiko und Guatemala. Professor Grube beschäftigt sich nicht nur mit ihrer Geschichte, sondern auch mit ihrer Gegenwart. Er spricht zwei der heutigen Maya-Sprachen fließend. „Vergleicht man sie mit dem alten Maya der Hieroglyphen, verhält es sich in etwa so wie mit Latein und Italienisch.“ Außerdem ist er seit 1997 mit einer Maya-Frau verheiratet. Die beiden haben sich bei einem Ausgrabungsprojekt in Caracol in Belize kennengelernt, wo sie im Labor mitgearbeitet hatte.

Maya-Studenten opfern ihren Vorfahren Weihrauch und Tabak.

„Die meisten Nachfahren der Maya leben unterhalb des Existenzminimums“, sagt Grube. Besonders schlecht sei die Situation in Guatemala. „Seit 1986 sind die Rechte der Maya zwar in der Verfassung verankert, doch de facto herrscht eine Art Apartheid- System.“ 98 Prozent von ihnen leben im Hochland von Guatemala, abgehängt vom Rest der Gesellschaft. Sie sind vom öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen, die Kinder besuchen nur in seltenen Fällen eine Schule. Obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen, haben sie kein politisches Mitspracherecht.

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1991 nahm eine junge Frau an einem von Nikolai Grubes Sommerseminaren teil. Ihr Name: Rigoberta Menchú. Ein Jahr später erhielt die Maya aus Guatemala den Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für die Menschenrechte von Ureinwohnern und vor allem ihres Volkes.

Als eine Herzensangelegenheit bezeichnet Nikolai Grube die Sommerseminare, die er seit Jahrzehnten vor Ort anbietet. Sie sind nicht für Touristen oder für ausländische Studenten bestimmt, sondern ausschließlich für die Maya. Hier lernen sie ausgerechnet von ihm, dem Deutschen, die Hieroglyphen ihrer Ahnen zu entschlüsseln. „Ich sehe meine Arbeit nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als gesellschaftliche und politische Aufgabe“, betont er. „Wir Ethnologen können ein wenig dazu beitragen, dass die Maya nach Jahrhunderten der kolonialen Unterdrückung ihre eigene Identität wiederentdecken.“

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Studiosus-Gäste folgen den Spuren der Maya-Kultur auf den Studienreisen nach „Mexiko – Yukatan“, „Mexiko – Guatemala“ und „Guatemala“ sowie auf der Klassik Studienreise „Mexiko–Guatemala–Belize“.