Über den Dächern von Wien

Eine Feuerleiter führt hinauf auf das Kupferdach des Kunsthistorischen Museums am Maria-Theresien-Platz. Wegen fehlender Geländer kein Ort für öffentliche Begehungen, aber heute ist eine Ausnahme. Wien-Tourismus hat für die ausländische Presse ein besonderes „Schmankerl“ vorgesehen: einen Besuch bei den Bienen über den Dächern von Wien, Honigprobe inklusive.

Vor allem die Delegation aus den Vereinigten Arabischen Emiraten ist aus dem Häuschen. Die Sicherheitskräfte haben alle Hände voll zu tun, um die Selfie begeisterten Journalisten vor dem Absturz zu bewahren. Zugegeben, der Ausblick ist atemberaubend. Das findet selbst Thomas Zelenka, der sich seit 2014 um fünf Bienenvölker hier oben kümmert. „Einen schöneren Arbeitsplatz kann ich mir nicht vorstellen“, sagt der Imkermeister, der seinen Beruf als Tourismusmanager an den Nagel gehängt hat und in die Fußstapfen seines Großvaters getreten ist. Der war – allerdings nur hobbymäßig – Imker in der Steiermark.

Seine wahre Berufung hat Zelenka gefunden, lange bevor es den Hype um die Bienen gab. „Damals redete niemand vom Bienensterben, es gab keine Bürgerinitiativen zum Thema ‚Rettet die Bienen’ oder menschliche Bestäuber in China“, sagt Zelenka. „Damals dachten die Menschen bei einem Imker eher an einen schrulligen alten Mann, der sich in seinem Blumengarten um ein paar Bienen kümmert.“ Heute seien Bienen en vogue. Noch nie gab es so viele Imker.

Imker ist ein klassischer Lehrberuf, den Thomas Zelenka als Meister abgeschlossen hat. Die Kombination aus Handwerk, Tierpflege, Produktherstellung und Sinnhaftigkeit sei einzigartig und habe all seine Erwartungen übertroffen. „Tagtäglich begegne ich der Weisheit des Universums“, schwärmt der 50-Jährige philosophisch. „Die Bienen haben sich vor 40 Millionen Jahren entwickelt und leben in einem Superorganismus zusammen. Alle Mitglieder des Staates, ob Königin, Arbeiterinnen oder Drohnen, verfolgen das gleiche Ziel: das Überleben des Volkes. Jede einzelne Biene muss eine bestimmte Aufgabe erfüllen – und ist dafür von der Natur perfekt ausgestattet. Wir Menschen können von den Bienen viel lernen!“

Doch die Bienen sind in ihrem natürlichen Lebensraum bedroht. Pestizide, Monokulturen und Bebauung führen dazu, dass immer mehr Bienen in den Innenstädten von Metropolen leben. Premiere feierten die Großstadtbienen in den 1980er Jahren in Paris, auf dem Dach der prunkvollen Opéra Garnier. Der heute 79-jährige Jean Paucton wurde als erster Imker dafür bekannt, dass er Bienen in der Stadt heimisch machte. Aus einer Not heraus: Weil sich eine Nachbarin über seine Bienen auf dem Balkon beschwerte, brachte Paucton, der als Requisiteur an der Oper arbeitete, sein Bienenvolk kurzerhand auf das Dach des berühmten Gebäudes.

Ob die Bienen im Herzen der französischen Hauptstadt überleben würden? Bei dem Asphalt, Beton, den vielen Autos und der schlechten Luft? Erfahrungswerte gab es damals nicht. Umso erstaunter war Paucton, dass seine Stadtbienen plötzlich mehr Honig produzierten als sonst. „Heute wissen wir, dass es in den Städten manchmal sogar eine größere Blütenvielfalt als auf dem Land gibt“, erklärt Zelenka. „Außerdem blüht hier alles länger, weil es im Durchschnitt zwei bis drei Grad wärmer ist.“

Pauctons Beispiel inspiriert andere Imker in Paris. Mittlerweile summen auf dem berühmten Glasdach des Grand Palais ebenso Bienenvölker wie auf dem Tour Montparnasse und auf Notre Dame. Übrigens überlebten die Bienen den dramatischen Kirchenbrand vom April 2019 unbeschadet, obwohl ihr Imker Nicolas Géant mit dem Schlimmsten gerechnet hatte. Doch weil Bienen keine Lungen haben, sind sie nicht erstickt. Intuitiv hatten sie sich während des Infernos mit Honig vollgesaugt und so die Hitze verkraftet.

Auch Wien ist dafür prädestiniert, Bienen einen neuen Lebensraum zu schenken. Knapp die Hälfte des Stadtgebiets besteht aus Parkanlagen, landwirtschaftlich genutzten Flächen oder Wäldern. Damit zählt Wien zu den grünsten Millionenstädten der Welt. „Im Volks- und Burggarten gibt es uralte Kastanien und Linden und Beete voller blühender Rosen“, sagt Zelenka. „Ein Eldorado für meine Bienen auf dem Kunsthistorischen Museum.“

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„Ich versuche, die Natur nachzuahmen“, sagt Zelenka. „Ich verwende Bienenstöcke aus Holz, keine Kunststoffe und nutze das Wachs aus meinen eigenen Stöcken, für den Wabenbau des nächsten Jahres. Das ist total biologisch und ohne chemische Rückstände.“

Bis er sie dort oben platzieren durfte, musste er allerdings einige bürokratische Hürden bewältigen. Er brauchte die Zustimmung diverser Behörden, die der Direktorin Sabine Haag – vor allem aber die der Sicherheitsabteilung. Denn seit dem spektakulären Kunstraub der Saliera am 11. Mai 2003 gleicht das Kunsthistorische Museum einem Hochsicherheitsgefängnis.

In der „Langen Nacht der Musik“ hatten die letzten Besucher gerade das Museum verlassen, da schrillte der Alarm. Die Security glaubte nicht an einen Einbruch und tat nichts – eine fatale Fehleinschätzung. Am nächsten Morgen entdeckte ein Wachmann ein eingeschlagenes Fenster und die zertrümmerte Vitrine, in der die Saliera, das goldene Salzgefäß von Benvenuto Cellini, ausgestellt war.

Die mittlerweile wiedergefundene Saliera ist von unschätzbarem Wert, weil es sich um die einzige erhaltene Goldschmiedearbeit des italienischen Bildhauers handelt. „Der Raub war ein Riesenskandal und hat der damaligen Museumsleitung viel Kritik eingebracht“, meint Zelenka. Seitdem wurde das Sicherheitskonzept radikal überarbeitet. „Jeden neuen Mitarbeiter prüft die Security auf Herz und Nieren. Natürlich auch mich.“ Erst nach erfolgreich durchlaufenem Sicherheitscheck konnte der Imker fünf Bienenvölker auf dem Dach ansiedeln.

Die Saliera, das teuerste Salzgefäß der Welt, wurde drei Jahre nach dem spektakulären Kunstraub in einem Wald wiedergefunden und der Täter verhaftet.

Ein weiterer prominenter Bienenstandort Zelenkas ist das Kunst Haus Wien. Das nach Entwürfen des österreichischen Künstlers Friedensreich Hundertwasser errichtete Gebäude beherbergt seit 1991 das „Museum Hundertwasser“, das „Haus der Fotografie“ sowie das „Erste grüne Museum“. „Die perfekte Location“, findet Zelenka, weil Hundertwasser als Vordenker der ökologischen Moderne galt, Fassaden begrünen und Bäume aus Fenstern wachsen ließ. „Er war der Ansicht, dass die Hausdächer die Fläche, die unten am Boden versiegelt wurde, der Natur zurückgeben müssen“, erklärt Zelenka. Das ging so weit, dass Hundertwasser unbedingt eine Kuh auf dem Dach weiden lassen wollte. „Na ja, jetzt sind es halt Bienen geworden. Hundertwasser hätte sich auch darüber bestimmt gefreut.“ Ihren Nektar holen sich die beiden Völker à ca. 140.000 Bienen im Garten und Innenhof sowie an der Museumsfassade. „Um die 80 Kilogramm erlesenen Bio-Honig können wir pro Jahr im Museumsshop verkaufen.“

Wenn Thomas Zelenka nicht gerade mit Honigernten, Honigschleudern oder der Pflege seiner Bienenvölker beschäftigt ist, dann hält er für Interessierte Workshops. Er versteht sich als „Botschafter der Bienen“. Doch auch wenn er als Stadtimker eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, seine zentrale Botschaft lautet: „Bienen gehören aufs Land. Weil wir Menschen durch Pestizide und Monokulturen die Natur zerstören, müssen wir ihnen helfen, in ihrem neuen Lebensraum Stadt zu überleben.“

Erleichtert wird die Arbeit der Imker zunehmend durch bienenfreundliches Verhalten vieler Städte weltweit. Berlin stellt der Initiative „Berlin summt!“ prominente Gebäude und Flächen zur Verfügung, darunter das Abgeordnetenhaus oder das Tempelhofer Feld. Bis 2020 pflanzt Paris 20.000 neue Bäume, um den Bienen – und nicht nur den Bienen – das Stadtleben angenehmer zu machen. New York hat das private Bienenhaltungsverbot abgeschafft. Seitdem entpuppen sich die Wolkenkratzer in Manhattan als beliebtes Zuhause für Bienen. Wenn die summenden Insekten doch mal unkontrolliert ausschwärmen, so wie im August 2018, als sich ein riesiges Bienenvolk am Times Square auf einem Hotdog- Stand versammelte, dann ist das Police Department darauf bestens vorbereitet. Darren Mays ist nämlich nicht nur Polizist, sondern auch Imker und offiziell bei der New Yorker Polizei als Schwarmfänger angestellt.

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Der Begriff „fleißige Biene“ kommt nicht von ungefähr: Für ein Glas Honig (500 Gramm) fliegen Bienen eine Strecke von rund 120.000 Kilometer, was drei Erdumrundungen entspricht.

Auch Wien unterstützt seine Imker, wo es kann. „Die Stadt bietet öffentliche Plätze für unsere Bienen an“, sagt Thomas Zelenka. „Pacht müssen wir nicht zahlen – die Stadt ist an Biodiversität interessiert, und die gewährleisten die Bienen, weil 80 Prozent aller Nutz und Wildpflanzen ausschließlich von ihnen bestäubt werden.“ Auf der 21 Kilometer langen Donauinsel, einem beliebten Naherholungsgebiet der Hauptstädter, hat Zelenka die offizielle Erlaubnis, Bienen zu halten und speziellen „Inselhonig“ zu produzieren. Als die Insel zwischen den Jahren 1972 und 1988 künstlich aufgeschüttet wurde, dachten ihre Planer neben Badebuchten, Wander- und Radwegen auch an die Natur. Es wurden etwa 1,8 Millionen Bäume und Sträucher gepflanzt. Inzwischen sind hier seltene Vogel-, Amphibien- und Fischarten, aber auch Rehe, Hasen und Biber heimisch. Wem auf der Donauinsel eine Biene begegnet, der kann sich sicher sein, dass sie eine von Zelenkas „zehn Millionen Mitarbeiterinnen“ ist, wie er sie freundlich nennt. Der Mann ist zu beneiden, denn wer hat schon so viele fleißige Mitarbeiterinnen?

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In der Agrarwirtschaft eingesetzte Pestizide machen den Bienen zu schaffen. Für die Bienen, die auf gespritzten Pflanzen Nektar sammeln, wirken diese Neonicotinoide wie Nervengift, das sie jede Orientierung verlieren lässt.