Venedigs Gondeln – Die Rudergabel als Kunstwerk

Ganz am Ende, wenn alles getan ist, wenn die Axt in der Ecke steht und die Säge daneben, wenn die großen Späne weggekehrt sind und die feinen längst geflogen – ganz am Ende beugt Saverio Pastor sich hinunter und hält seine Nase ans Holz. Natürlich ist es nicht so, dass die nächsten Atemzüge darüber entscheiden, ob seine Arbeit und das Stück in seinen Händen gelungen sind. Das hat er längst überprüft. Hat das Holz ans Licht gehalten, hat die Linien kontrolliert und ist mit dem Daumen die Kurven entlang gefahren. Hat gefühlt und betrachtet und gewogen und balanciert. Pastor weiß schon lange, dass seine fórcola perfekt ist und eine Schönheit dazu. Und trotzdem ist seine Arbeit nicht vollendet, solange er ihn nicht gerochen hat, diesen einzigartigen Duft, der entsteht, wenn das Öl in das bearbeitete Kirschholz eingezogen ist und es samten gemacht hat. Erst dann ist alles gut, erst dann ist die Arbeit getan. Pastor schließt die Augen und atmet und lächelt, beinahe genießerisch sieht das aus. Dann stellt er die fórcola in das Regal zu den anderen.

Die Gilde der Riemenmacher

Gibt es etwas, das man mehr mit Venedig verbindet als seine Gondeln? Seit mindestens 700 Jahren schon fahren sie über die Kanäle der Stadt. Was sie nur können, weil kunstfertige Handwerker seit ebenso langer Zeit jene Rudergabeln bauen, mit deren Hilfe ein Gondoliere sein schlankes Boot steuern kann. Bereits seit 1307 sind Venedigs Fórcole-Macher in einer Gilde organisiert. Weil die meisten von ihnen auch Ruder herstellen (bzw.: Riemen) und man in La Serenissima lange Zeit der Meinung war, dass die wichtiger seien zum Bewegen einer Gondel, werden Männer wie Saverio Pastor bis heute reméri genannt: Riemenmacher.

Saverio Pastor ist einer der letzten Fórcole-Macher Venedigs. Der gebürtige Venezianer lernte bei den besten seiner Zunft und eröffnete 1980 seine erste Werkstatt in der Nähe des Arsenale. 2002 zog er damit ins Dorsoduro-Viertel um.

Dabei sind nicht die Riemen, sondern viel eher die fórcole Meisterstücke der venezianischen Handwerkstradition. Die ersten Modelle waren nicht mehr als flache Bretter mit groben Ausbuchtungen, in die man die Ruder legen konnte. Ab dem 17. Jahrhundert veränderten die Rudergabeln dann allmählich ihre Form und wurden skulpturenartig (man weiß das so genau, weil Maler wie Gerolamo Forabosco die Fórcole auf ihren Gemälden verewigt haben). Noch ein Jahrhundert später erhielten die Gabeln dann die sànca – jene Krümmung des Holzes, mit deren Hilfe die Manövrierfähigkeit der Gondel immens erhöht und die Arbeit der Gondolieri erheblich vereinfacht wurde. Übrigens haben auch alle anderen kleinen Abschnitte der geschwungenen und gekrümmten Rudergabeln eigene, spezifische Namen: nasélo dé sora, mòrso, testa, mesanin oder rècia. Man muss sich nicht wundern, dass Fachbücher über die fórcola geschrieben werden.

Skulpturen für das Ruder

Saverio Pastor ist einer von vier verbliebenen Männern in Venedig, die sich auf die Kunst des fórcole-Baus verstehen. Die Tür zu seiner Werkstatt an der Fondamenta Soranze detta Fornace im Stadtteil Dorsoduro steht immer offen; wer mit seinem Studiosus-Reiseleiter vorbeischaut, kann hereinkommen und dem Meister (und seinem Mitarbeiter) bei der Arbeit zusehen. Etliche Stücke kann man kaufen und zuhause als Skulptur ins Wohnzimmer stellen, Pastor signiert sie wie Maler ihre Bilder.

Und selbst wenn einem das beim Betrachten der Gondeln auf den Kanälen zuvor nie aufgefallen ist: Wenn man zum ersten Mal eine fórcola in den Händen hält und mit den Fingern die feinen Ausbuchtungen befühlt, ahnt man, wie perfekt sich ein Ruder in ihnen hin und her bewegen lässt. Insgesamt kann es an acht verschiedenen Punkten auf- oder angelegt werden. Das ermöglicht dem Gondoliere, Schub zu geben, abzubremsen und rückwärts zu fahren. Und natürlich wird eine Gondel auf dem stark befahrenen Canal Grande komplett anders gesteuert als in einem der vielen schmalen Kanäle. Auf denen muss das Ruder steil eingetaucht werden, wenn man ohne Mauerkontakt um die Ecke kommen möchte.

Warum die Gondeln Trauer tragen

Natürlich haben sich auch Venedigs Gondeln mit der Zeit verändert. Über Jahrhunderte wurde das Wissen um ihren Bau von Vater auf Sohn weitergegeben, heutige Gondeln sind das Ergebnis vieler, vieler Generationen von einander lernender Handwerkskunst. Anfangs waren Venedigs Gondeln deutlich breiter und wuchtiger – schlanker und eleganter fielen die Modelle erst aus, als die reichen Patrizier der Lagunenstadt sie für sich entdeckten. Als irgendwann eine Art Wettbewerb einsetzte, wessen Gondel prächtiger ausgestattet und verschwenderischer verziert war, erließ der Senat der Stadt 1562 ein Gesetz gegen die Prunksucht. Seitdem müssen alle Gondeln Trauer tragen und schwarz sein. Asymmetrisch sind sie sowieso, eine Seite ist etwa 25 Zentimeter breiter als die andere. Auf dem Wasser ergibt das jenen Drall, der es dem Gondoliere ermöglicht, von einer Seite aus zu rudern.

Die fórcole von Saverio Pastor sehen aus wie kleine Kunstwerke. Kein Wunder, dass sie nicht nur auf Gondeln landen, sondern auch als Schmuckstücke in so manchem Wohnzimmer und Restaurant. Sogar für Stararchitekten wie Frank O. Gehry oder I. M. Pei hat Pastor schon gearbeitet. 

Keine von Pastors fórcole ist wie die andere, jede ist eine Maßanfertigung. Die Größe des Gondoliere, die Länge seiner Arme, die Höhe seiner Gondel – das alles muss mit berechnet werden, bevor Pastor beginnt, aus einem Block Kirsch- oder Birnbaumholz eine fórcola zu machen. Zwanzig, dreißig, manchmal auch vierzig Arbeitsstunden mit grobem Werkzeug und feinstem Sandpapier später ist das gute Stück vollendet. Dann muss es bloß noch geölt werden. Und beschnuppert.

Studiosus-Gäste besuchen den Fórcole-Macher Saverio Pastor auf der Reise „Entspannte Tage in der Lagunenstadt“ mit Studiosus smart & small. Weitere Studiosus-Reisen nach Venedig finden Sie hier.

Le Fórcole di Saverio Pastor, Fondamenta Soranzo detta Fornace, Dorsoduro 341, +39 041 522 5699. www.forcole.com