27.10.2022

Apulien: Neptungras im Naturschutzgebiet

Auf der Studiosus-Wanderreise in Apulien kommen die Gäste der Natur in Italiens tiefem Südosten so richtig nahe. Zum Beispiel bei einer Wanderung mit einer Geographin in einem WWF-Naturreservat.

Kiste mit vom Meer an den Strand gespülten Gegenständen in Apulien
Katrin Daniele-Petzold's Schatzkiste in Apulien (Fotografin: Ulrike Hund)

Wenn Katrin Daniele-Petzold ihre Schatzkiste öffnet, sind alle Augen auf die dunkelhaarige Deutsche gerichtet. Die Teilnehmer unserer Studiosus-Gruppe sitzen und stehen um einen ausgeblichenen Baumstamm am Rand einer türkisblauen Bucht. Katrin lässt ihre Schätze von Hand zu Hand wandern: den weißen Rückenknochen eines Tintenfischs, der diesem das Auf- und Abtauchen ermöglicht, die Samenkapsel einer Kastanie, die nur im Norden der Adria wächst und mit der Strömung hier unten im Süden Apuliens an den Strand gespült wurde, das hart gewordene Gelege einer Schnecke und ein kleines blaues Pferdchen aus Plastik, das womöglich ein Kind beim Spielen auf einer Yacht verloren hat. Aber auch ein fein geschmirgeltes, spitzes Plastikstäbchen findet sich in der Kiste. Wahrscheinlich sei es von einem Kreuzfahrtschiff ins Wasser gelangt. „In Italien nämlich ist Plastik für Wattestäbchen schon seit Jahren verboten - im Gegensatz zu Deutschland, übrigens!“ Katrin kann sich den kleinen Nachsatz nicht verkneifen. Sie stammt selbst aus München und weiß, dass wir Deutschen uns nur zu gerne für Umweltschutzweltmeister halten. „Inzwischen aber gibt es zum Glück eine EU-Verordnung!“

Auf schmalen Pfaden von Bucht zu Bucht

Wir wandern auf unserer Studiosus-Reise „Apulien aktiv erleben“ durch das Naturschutzgebiet Torre Guaceto an der Südostküste Italiens. Katrin ist Geographin und arbeitet als freie Mitarbeiterin im Reservat. Auf schmalen Pfaden führt sie uns von Bucht zu Bucht, zeigt uns Mastix, Myrthe und Zistrose, die typischen Sträucher der mediterranen Macchia, klärt uns über deren Verwendung in Medizin und Wirtschaft auf und weiß zu allem eine Geschichte zu erzählen. Ein Reisegast zeigt ihr einen faustgroßen Ball aus Pflanzenfasern, den er am Ufer gefunden hat. Überall im Sand liegen diese seltsamen Kugeln herum - mal kleiner, mal größer - und wecken unsere Neugier. Katrin weist auf einen Haufen unansehnlicher brauner Blätter am Rande der Bucht. „Die Kugel besteht aus den abgefallenen Blättern der Posidonia-Pflanze, dem Neptungras, die das Meer angespült hat“, erklärt sie uns. Neptungraswiesen wachsen unter Wasser, sie filtern das Meer und produzieren Sauerstoff. Im Herbst und Frühjahr schützen die angeschwemmten Blätter den Sand vor den anrollenden Stürmen. Mit der Zeit formen Wind und Wellen aus den Pflanzenfasern diese Bälle. Kurz: Was uns zuerst als Schmutz erschien, ist genau das Gegenteil davon. Es ist ein Indikator für die Wasserqualität. Und die ist sehr gut.

Wandern von Bucht zu Bucht im Naturschutzgebiet Torre Guaceto
Wandern von Bucht zu Bucht im Naturschutzgebiet Torre Guaceto (Fotografin: Ulrike Hund)

Katrin braucht nicht lange, um uns zu überzeugen. Das Meer ist glasklar. Der Strand blendend weiß. Als wir den Sand durch die Finger rinnen lassen, bemerken wir, dass er aus winzigen Muscheln besteht, deren Perlmutt in der Sonne funkelt.

Die geheime Quelle

Das Wahrzeichen des Naturschutzgebiets ist ein mittelalterlicher Küstenwachturm. Nicht nur Römer und Griechen landeten mit ihren Schiffen hier. Auch Sarazenen, die über Jahrhunderte die Küste heimsuchten, kannten das Geheimnis der Bucht: eine Süßwasserquelle, die am Rande eines Schilfgürtels ins Meer fließt. Im trockenen Apulien, wo sommers wie winters Flüsse und Bäche in den porösen Kalksteinplatten versickern, ist Süßwasser ebenso wichtig für Tiere wie für Menschen. Besonders die Zugvögel finden hier eine letzte Rast vor dem weiten Flug übers Mittelmeer nach Nordafrika. Im Herbst verdunkeln Wolken von Staren den Himmel über dem Turm. Im Frühling wachsen wilde Orchideen und Gladiolen auf den Wiesen. Vögel brüten im Schilfgürtel. Fische laichen im warmen salzarmen Wasser. Dies ist auch der Grund, warum das Küstengebiet im Jahr 1991 zum landeseigenen Naturschutzgebiet erklärt wurde.

Das WWF Naturschutzgebiet Torre Guaceto besteht aus drei Schutzzonen: Etwa zweitausend Hektar Meereszone sowie acht Kilometer Küste, mit mediterraner Macchia bewachsene Dünen und Feuchtgebieten, Schilfgürtel, Sümpfe, Lagunen. Im Jahr 2000 kamen noch gut tausend Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche hinzu, die sukzessive auf ökologische Landwirtschaft umgestellt werden: jahrhundertealte Olivenhaine, Weingärten und Felder.

Fischer und Schildkröten

„Damals in den 1990er-Jahren hat es massive Proteste der Fischer gegeben, deren Fang reglementiert wurde“, erklärt Katrin. „Aber bald erholte sich der Fischbestand, und nun fangen die Fischer an zwei Tagen in der Woche so viel wie früher, als sie jeden Tag ausfahren mussten. - Unsere Lizenzen sind im Nu vergeben!“ Katrin lacht. „Viel Schaden in der Natur entsteht einfach durch Unwissenheit!“ fügt sie hinzu. „Wir müssen die Menschen mitnehmen.“ Deshalb werden auch Besucher zugelassen. In einigen Strandabschnitten ist sogar das Baden erlaubt.

Nur die Bucht mit den Süßwasserquellen darf niemand betreten. Einst legten auch Meeresschildkröten hier ihre Eier ab. Seit Jahren erwarten die Mitarbeiter sehnlichst ihre Rückkehr, denn die Nachkommen der Caretta-Caretta-Schildkröte kehren für ihr Gelege immer an den Ort zurück, an dem sie das Licht der Welt erblickt haben. Aber meist werden nur verletzte Schildkröten, die in Schiffsschrauben geraten sind oder sich in Schleppnetzen verfangen haben, von Fischern nach Torre Guaceto gebracht. Dort werden sie von Meeresbiologen in einem kleinen „Schildkröten-Krankenhaus“ wieder aufgepäppelt und anschließend in die Freiheit entlassen.

Bei Nonno Gino

Aus den Dünen dringen helle Kinderstimmen. Katrin winkt ihrer italienischen Kollegin Anna Maria zu, die mit einer Gruppe von Kindern aus dem Dickicht auftaucht. Die Kinder bewundern einen riesigen Wacholderbusch. Er ist schon mehrere hundert Jahre alt und wird von den Mitarbeitern liebevoll Nonno Gino, Großvater Gino, genannt. Seine Nadeln sind weicher als die des weiblichen Wacholderstrauchs, der die Früchte trägt. Dachse lieben die graugrünen Wacholderbeeren und lassen sich auch von Dornen nicht abhalten. Erst wenn die Samen den Verdauungstrakt des Dachses passiert haben und wieder ausgeschieden werden, können sie keimen, und neue Wacholderbüsche entstehen. Den Kindern macht diese Vorstellung sichtlich Spaß, und auch wir staunen, wie alles in der Natur zusammenhängt - und wie fragil dieses Gleichgewicht ist.

Apulien aktiv erleben, 12 Tage Wandern mit Studiosus

Wacholdersträuche im Naturschutzgebiet Torre Guaceto
Wacholdersträuche im Naturschutzgebiet Torre Guaceto (Fotografin: Ulrike Hund)