16.12.2021

Norwegische Landschaftsrouten

„Ein Geniestreich für das Land“: Ob ein Rastplatz zum Heiraten oder ein stilles Örtchen aus Gold, ein Mahnmal zum Gedenken an die Hexenverbrennung oder einfach nur atemberaubende Architektur – Norwegens Landschaftsrouten sind eine kreative Meisterleistung.

Norwegische Landschaftsrouten

Schroffe Felsen, Birkenwälder und grasgrüne Schafwiesen; an der Küste weiße Sandstrände, der aufgewühlte Nordatlantik und – keine Seltenheit – vorbeiziehende Wale. Die Inselgruppe der Vesteraalen rund 300 Kilometer nördlich des Polarkreises ist ein landschaftliches Paradies, wie so vieles in Norwegen. Arne und Mathilda sind dem Tipp ihres Professors gefolgt und von Oslo auf die Hauptinsel Andoeya angereist. „Selbst wir Norweger kennen oft nur die berühmten Nachbarn der Vesteraalen, die Lofoten“, sagt Mathilda. Von besonderem Interesse ist für die beiden Architekturstudenten jedoch nicht die Natur, sondern ein Rastplatz im Schatten der Gesteinsformation Bukkekjerka.

„Hier befand sich in vorchristlicher Zeit eine heilige Stätte, wo die Ureinwohner Gaben auf einem Altar geopfert haben“, erklärt Arne. Heute schmücken ein Servicegebäude mit öffentlichen Toiletten, Picknickund Parkplätze sowie eine Brücke, die zu mehreren Leuchttürmen führt, den historischen Ort. Ja, schmücken: Die topmoderne Architektur aus Beton und Spiegelglas stammt von dem norwegischen Architekturbüro Morfeus Arkitekter und befindet sich an einer der 18 sogenannten Norwegischen Landschaftsrouten.

Die Idee der „Nasjonale turistveger“ entstand in den 1990er-Jahren. Wie könnte man die grandiose Landschaft besser inszenieren und Touristen auch in entlegenere Gegenden Norwegens locken? Mit dieser Frage forderte das Parlament das ganze Land auf, Vorschläge einzureichen. 18 außergewöhnlich schöne Strecken wurden schließlich als nationale Landschaftsrouten auserkoren, mit einer Länge von über 2000 Kilometern und bislang 150 Bauten.

Die verantwortliche Staatliche Straßenverwaltung veranschlagte rund 427 Millionen Euro für das gesamte Projekt und beauftragte junge Architekten, Landschaftsarchitekten, Designer und Künstler, entlang dieser landschaftlich reizvollen Straßen Rastplätze, Toiletten, Aussichtsplattformen und Hotels zu entwerfen. Fast alle kommen aus Norwegen. Ausnahmen bilden die Schweizer Künstler Peter Fischli und David Weiss sowie ihr weltberühmter Landsmann, der Architekt Peter Zumthor; außerdem die 2010 verstorbene französisch-US-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois, der amerikanische Installationskünstler Mark Dion und seine Landsfrau Roni Horn, die für ihre Glasskulpturen berühmt ist.

Messlatte für sie alle waren und sind innovative, kreative Lösungen, die eine perfekte Symbiose zwischen Natur und Architektur herstellen. Und tatsächlich sind die Ergebnisse so extravagant, dass sie das Zeug zum Touristenmagneten haben. „Dass man etwas so Profanes wie einen Rastplatz derart gut in Szene setzt, ist einfach genial“, schwärmt Studentin Mathilda über Bukkekjerka.

Um die Bergformation Bukkekjerka herum wurde die moderne Betonarchitektur des Rastplatzes in die Landschaft integriert.

Fotograf Ken Schluchtmann kann dem nur zustimmen: „Mit den Landschaftsrouten ist Norwegen ein Geniestreich für das ganze Land geglückt“, meint der 50-Jährige. „Norwegens Reichtum besteht aus Öl, Fisch und was noch? Genau: den Landschaftsrouten. Mit ihnen hat das Land flächendeckend eine Kombination aus Natur und Design geschaffen, die weltweit einzigartig ist.“

Der Berliner kennt die „Nasjonale Turistveger“ wie seine Westentasche. Insgesamt acht Jahre lang befuhr er die Routen, legte 25.000 Kilometer zurück und schoss mehr als 10.000 Fotos. „Kein anderes Land hat mein Leben so beeinflusst wie Norwegen“, sagt der Vielgereiste. 2012 und 2013 wird er beim World Architecture Festival in Singapur als Architekturfotograf des Jahres ausgezeichnet. Die Siegerfotos beider Jahre hat Schluchtmann in Norwegen geschossen, an seinem persönlichen Lieblingsort: dem Trollstigen, zu Deutsch „Trollleiter“. Auf der Bergstraße, die sich in elf Haarnadelkurven vom Tal Isterdalen zur Passhöhe Stigrora hinaufschlängelt, rollt schon seit 1936 der Verkehr.

Als bislang einziger Fotograf hat Ken Schluchtmann die unvergleichliche Mischung aus Natur, Bau- und Kunstwerken entlang der Routen umfassend porträtiert.

Während der Sommerperiode von Mitte Mai bis Ende September kommen jährlich rund 800.000 Gäste aus aller Welt, um einen Blick auf die Serpentinen, die dramatische Bergkulisse und nun auch auf das Architekturensemble von Reiulf Ramstad Architects zu werfen. „Besucherzentrum, Restaurant, die kaskadenartigen Wasserbecken, Stege und Panoramaplattformen sind meiner Meinung nach visionär wie kein anderer Entwurf an den Landschaftsrouten“, findet der Fotograf. Schon lange bevor die Idee der Norwegischen Landschaftsrouten entstand, zählte der Trollstigen zu den Touristenmagneten Norwegens. Jetzt kommen noch mehr Gäste aus aller Welt, essen im schicken Restaurant einen Trollburger, machen Selfies mit Aussicht und fahren dann weiter: mit dem Auto oder mit dem Bus zurück zu ihrem Kreuzfahrtschiff nach Geiranger.

Für die spektakuläre Aufnahme der Trollstigen- Aussichtsplattform wurde der Berliner Fotograf Ken Schluchtmann 2013 zum Architekturfotografen des Jahres gekürt.

Aber geht der Plan auf, auch entlegenere Orte mit den „Turistveger“ zu erschließen und wirtschaftlich zu stärken? „Eindeutig ja“, sagt Per Ritzler, Pressechef der norwegischen Straßenverwaltung und Landschaftsrouten. „Drei Analysen, die wir von 2017 bis 2020 durchführen ließen, belegen, dass das Projekt zu einer deutlich höheren Rentabilität für Unternehmen entlang der Abschnitte beitragen.“

Die Varanger-Route, die in den äußersten Nordosten Norwegens an den Rand der Zivilisation führt, sei ein solches Erfolgsbeispiel. Umgerechnet rund 10 Millionen Euro hat der norwegische Staat in das Highlight dieser Landschaftsroute investiert: das Steilneset- Mahnmal. „Gut angelegtes Geld“, findet Ritzler, denn das Gemeinschaftsprojekt des renommierten Architekten Peter Zumthor, der Bildhauerin Louise Bourgeois und der norwegischen Geschichtsprofessorin Liv Helene Willumsen hätte besonders zur Wirtschaftsentwicklung der Region beigetragen. „Die Gedenkstätte wird regelmäßig in einheimischen und ausländischen Medien erwähnt und trägt dazu bei, Norwegens internationales Ansehen als interessante Design- und Architekturnation aufzubauen.“

Durch den Eismeertunnel, der unter der Barentsee hindurchführt, gelangt Ken Schluchtmann auf der Varanger-Route zur Insel Vardöya. Sein Ziel ist eben dieses Mahnmal, das an die Hexenverbrennungen im 17. Jahrhundert erinnern soll. „In Vardö sind ungewöhnlich viele Menschen auf dem Scheiterhaufen gelandet“, erzählt der Fotograf. In puncto Hexenverfolgung belegt der kleine Fischerort einen traurigen Spitzenplatz in Europa.

In dem Dorf Vardö mit damals kaum mehr als 300 Einwohnern wurden 91 Menschen wegen Hexerei hingerichtet.

Schluchtmann spaziert durch den begehbaren, dem Sturm trotzenden Stoffschlauch, den Architekt Peter Zumthor in einem Holzgestell aufgehängt hat: „Das hier lässt niemanden kalt“, meint der Fotograf. „Jeder einzelne Fall ist real und eine menschliche Tragödie.“ Für schummriges Licht im Inneren sorgen 91 Luken und 91 schwach glimmende Glühbirnen, die 91 Gerichtsprotokolle beleuchten. Alles Todesurteile.

Neben Zumthors Bauwerk befindet sich ein von Louise Bourgeois gestalteter Kubus. Aus einem eisernen Stuhl lodert eine ewige Gasflamme, darüber hängen im Kreis sieben ovale Spiegel. Jeder, der um den Stuhl herumgeht, hat das Gefühl, selbst in Flammen zu stehen. „Eine extrem gute Umsetzung des Themas, allerdings sehr städtisch gedacht“, findet Schluchtmann. „Ich habe mit einheimischen Fischern gesprochen, die die Ästhetik nicht verstehen und nur den Kopf schütteln: ‚Wir brauchen hier keine Kunstwerke, die Millionen Kronen kosten’, sagte einer von ihnen. Und ein anderer: ‚Wie wäre es mit einer neuen Straße oder einem neuen Pier? Warum verschwenden sie unser Geld mit so etwas?’“

Pressechef Ritzler weiß, dass die Vorbehalte in der Bevölkerung teilweise groß waren: „Mehrere unserer spektakulären Design- und Kunstprojekte haben bei der Präsentation der Pläne heftige Diskussionen ausgelöst. Doch die zunehmende Begeisterung vor allem im Ausland sowie das enorme Wertschöpfungswachstum – im Fall von Varanger sind es zum Beispiel 40 Prozent für die gesamte Region – führten schließlich doch zu lokaler Akzeptanz und sogar Stolz auf die Anlage.“

Zwiespältig war die Meinung im Land anfangs auch zu der goldenen Toilette an der Norwegischen Landschaftsroute Senja. Auf dem Rastplatz schimmern die vergoldeten Aluminium-Schindeln der Serviceeinrichtung in der Sonne. „Die Welt muss uns doch für verrückt halten“, schimpfte Anna, die aus der Region Troms stammt, bei der Eröffnung. „Ganz im Gegenteil“, findet Architekturstudentin Mathilda. „Welches Land hat es geschafft, dass in Reiseführern eine öffentliche Toilette als Sehenswürdigkeit angepriesen wird?“ Und ihr Freund Arne ergänzt begeistert, dass es bisher kein anderes WC-Häuschen – im Rahmen einer Fotoausstellung – ins New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) geschafft habe. Per Ritzler freut sich vor allem über die wirtschaftlichen Vorteile für die Einheimischen. „Laut einer Erhebung von 2017 betrug das Wertschöpfungswachstum für die Region Senja 50 Prozent.“

Attraktion am Ersfjordstrand: dreieckiges WC mit goldener Außenverkleidung.

Im Laufe des Jahres 2023 sollen die Norwegischen Landschaftsrouten nach 30-jähriger Entwicklungsarbeit als eine ganzheitliche Attraktion fertiggestellt sein. „Für die nächsten Jahre gibt es keine Pläne für andere Strecken“, sagt Ritzler. „Stattdessen werden die 18 Routen und rund 186 Installationen mit voller Aufmerksamkeit betrieben und gewartet. Außerdem planen wir bis 2029 rund 35 neue Installationen an den vorhandenen Routen.“ Ken Schluchtmann wird wieder nach Norwegen reisen, um die Projekte zu fotografieren, die sich jetzt noch in Planung oder Bau befinden. Und Mathilda und Arne kommen noch einmal nach Bukkekjerka, bringen dann Familie und Freunde mit. Denn auf dem außergewöhnlichen Rastplatz gibt es nicht nur eine Toilette mit Aussicht und einen Spot zum Walebeobachten, sondern auch einen Traualtar. Dort wollen die beiden heiraten, unter freiem Himmel, am liebsten bei Mitternachtssonne.

Ein interessantes Video über das Making of: „Architecture and Landscape in Norway“